Im Zug mit der Einsamkeit

Ich bin auf dem Weg zu einem Seminar, sitze im Zug und genieße die Fahrt: der Blick aus dem Fenster, die vorüberziehende Landschaft, die vielen Eindrücke. Ich

fahre, die Zeit bleibt stehen und ich lasse meine Seele baumeln. Der Alltag und meine Arbeit, sie dürfen während dieser Zeit stets ruhen. Die Reise geht in die Schweiz. Dabei fahre ich an Ortschaften meiner Kindheit vorbei. Ich freue mich, diese Gegenden, die mir einmal Heimat waren, wiederzusehen. Mit den Augen und mit meinem Herzen.

 

Alles scheint mir so friedlich. Aber als der Zug dann in meiner ehe-maligen Heimatstadt hält, Luftlinie nur wenige hundert Meter von meinem ehemaligen Zuhause entfernt, geht es los: Plötzlich ist da wieder diese kalte Wehmut, ich spüre, wie mein Herz sich verkrampft. Ich kenne diese Welle von

Emotionen, die da in mein Inneres schwappt. Ein innerer Druck sucht sich den Weg in die Freiheit, eine Blockade will sich lösen. Ich nehme Kontakt mit dem Gefühl auf, schaffe bewusst innere Weite, um der Emotion Raum zu geben, und spüre: Einsamkeit. 

 

In dem Moment, als ich zu mir sage „Ich fühle mich einsam“, kullern auch schon die Tränen.

Woher kommt dieses plötzliche Gefühl der Einsamkeit? Eine bedrückende

Erinnerung, eine Geschichte aus der Kindheit, die geheilt werden will? Ich

wende mich meinem inneren Kind zu: Aber nein, da war nichts, da ist nichts, was mir dieses plötzliche Einsamkeitsgefühl erklären könnte.

 

Nun meldet sich mein Verstand zu Wort: „Also das ist ja ganz was Neues. Einsam, ausgerechnet du! Du hattest schon immer viele Freunde, du bist von Menschen umgeben, die Anteil an deinem Leben nehmen. Du hast deine Familie, du hast Menschen, denen du dein Herz ausschütten kannst. Nein, du bist nicht einsam, du bist nur ein wenig sentimental,“ sagt mein Verstand.

 

Netter Versuch. Ein Gefühl, das einem von einer Sekunde zur anderen die Kehle zuschnürt, lässt sich nicht so einfach wegargumentieren. Der Verstand kann sich noch so überlegen aufspielen, Gefühlen gegenüber zieht er meist den Kürzeren. Außerdem weiß nicht nur ich: Man kann von noch so vielen Menschen umgeben

sein und sich dennoch einsam fühlen. Einsam bin ich, nicht allein.

 

Aber so leicht gibt die Stimme in meinem Kopf nicht auf. Sie rät zur Analyse: „So, jetzt schau dir deine Einsamkeit einmal ganz genau an. Versuch ihren Entstehungs-prozess nachzuvollziehen. Was hat deine Einsamkeit verursacht? Seit wann leidest du darunter? Welche Menschen haben dazu beigetragen, dass du dich plötzlich so einsam fühlst? Gab es eine bestimmte Situation, ein bestimmtes Erlebnis, das dieses Gefühl in dir ausgelöst hat?“

 

Ich finde ein paar Antworten, aber noch mehr Fragezeichen. Mein Verstand gibt sich wirklich alle Mühe. Er will alles wissen und mit diesem Wissen meine Seele

heilen. Gut gemeint. Aber erfolglos. 

 

Noch immer schnürt mir das Gefühl der Einsamkeit die Kehle zu. Der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Wieder der Blick durchs Fenster, draußen eine sanfte Hügellandschaft, ein erster Hauch von Frühling. Es dauert ein Weile, aber dann kehrt so etwas wie innerer Friede in mir ein. Das gibt mir den Mut, ein Experiment zu wagen. Ich bitte meinen Verstand, doch bitte für einen Moment das Abteil zu verlassen und wende mich noch einmal meiner Einsamkeit zu.

 

Ich öffne ihr mein Herz, schenke dem Gefühl Raum und erlaube der Einsamkeit,

so viel davon einzunehmen, wie sie offensichtlich braucht. Sie darf sich zeigen, ganz und gar. Sie darf sich fühlbar machen ganz und gar. Ich denke dem Gefühl nicht hinterher. Ich fühle. Nicht mehr, nicht weniger.

 

Die Einsamkeit ergreift mich ganz. Sie nimmt mich ein wie eine Welle. Ich spüre sie in jeder Zelle meines Seins. Und ich wehre mich nicht. Ich heiße die Einsamkeit willkommen und umarme sie mit meiner Liebe. Die Einsamkeit ist Teil von mir. Wann immer sie entstanden ist, wer immer sie verursacht: Jetzt will sie von mir wahrgenommen werden. Vielleicht nur noch dieses eine Mal, vielleicht so intensiv

wie noch nie. Mit meinem ganzen Sein umarme ich meine Einsamkeit. Da ist kein Bedürfnis danach, irgendetwas von ihr wissen zu wollen. Sie

darf einfach nur sein.

 

Mein Herz entkrampft sich und wird weit. In dieser Weite nehme ich Freiheit

war. Es fühlt sich leicht an. Der Zug hält an. Eine Kleinstadt in der Schweiz. Auch sie ist mir vertraut. Hier habe ich einige Jahre als Kind gelebt. Es fühlt sich gut an, so auf Reisen zu sein, ganz mit mir.

 

 

 

(c) copyright, auch auszugsweise ausschließlich unter der vorgegebenen vollständigen Quellenangabe 

Fotocredit: shutterstock_178672739 gabczi

 

Dieser Text erschien zuvor als Kolumne "Mitten in die Brösel" für das Engelmagazin 03/16

 

 

 

 

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Daniela Hutter

schreibt, bloggt und hält Seminare zum Thema bewusste Lebensführung. Es ist ihre Passion, alte Tradition mit zeitgemässer Spiritualität zu verbinden. Mit Menschen zu sein bereitet ihr Freude und deshalb bietet sie auch persönliche Coachings an.

 

Als Autorin schreibt Daniela Hutter für verschiedene Zeitschriften. Aktuell arbeitet sie an ihrem nächsten Buch. Bereits erschienen sind die Bücher „Lass deine Träume wahr werden“ (2013) und „Den Tag mit Engeln beginnen“ (2008), sowie das Kartenset „Energien der neuen Zeit“ (2013). Ihr neuestes Buch „Mach dein Leben hell“ erscheint im August 2015. Aktuell arbeitet sie an ihrem nächsten Buch "Das Yin-Prinzip" (erscheint 2016)

 

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Impulsgeberin für moderne Frauen

Daniela Hutter weiß was Frauen beschäftigt und kennt die zahlreichen Herausforderungen und Hürden, die das Leben lehrt und der Alltag bietet. Fernab von Dogmen und klassischem Feminismus ermutigt sie in ihrer Arbeit vor allem Frauen in Kontakt mit ihrem wahren FrauSein zu kommen und mutig den eigenen Weg zu gehen. Sie weist den Weg in das Innere und erinnert zugleich daran, mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen 

 

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